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Diakonie Ambulant (Druckversion)

Gut gepflegt im Rems-Murr-Kreis?

Autor: Hirsch & Wölfl GmbH
Artikel vom 16.07.2018

Immer weniger Personal, immer mehr Patienten – die Pflegebranche steht vor gewaltigen Herausforderungen. Eine Serie beleuchtet die Situation von Pflegenden, Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen in der Region. Heute: eine Tour mit einem Pfleger der Diakonie.

Murrhardt - Es ist 6.10 Uhr, als Jürgen Mang auf dem Dienstsmartphone „Einsatz starten“ drückt. Ab jetzt läuft die Zeit für den Pfleger der Diakonie ambulant. Mang steigt aus dem Auto und betritt das Haus seiner ersten Patientin in Fornsbach. Auf dem Tisch liegt die aufgeschlagene Zeitung, das Radio läuft. Die Frau ist seit 4 Uhr wach. Mang begleitet sie ins Bad und hilft ihr beim Waschen.

15 Minuten für die „kleine Toilette“
Etwa 15 Minuten veranschlagt die Diakonie für die so genannte „kleine Toilette“, 30 Minuten für ein Bad, fünf für eine Injektion. „Früher konnte man mit den Leuten spazieren gehen, dafür bleibt heute keine Zeit mehr“, sagt Mang, der seit 1990 in der Pflege tätig ist. „Seit damals gibt es immer weniger Personal.“ Zeit für ein kurzes Gespräch oder einen kleinen Scherz nimmt sich der 53-Jährige dennoch, bevor er wieder ins Auto steigt und auf dem Smartphone „Einsatz beenden“ drückt.

Das Programm zeigt ihm an, wo er als nächstes hin muss: Zu einer Frau nach Kirchenkirnberg. Die Rollläden sind noch unten. Mang nimmt die Zeitung aus dem Briefkasten, schließt die Haustür auf: „Guten Morgen!“ Die Seniorin kommt aus dem Schlafzimmer. Der Pfleger zieht ihr die Kompressionsstrümpfe an und misst den Blutzucker. Der Wert ist zu hoch. „Was haben Sie denn gestern gegessen? Es kommt alles raus“, sagt Mang und lacht. Die alte Frau lacht ebenfalls bleibt aber die Antwort schuldig. Mang setzt eine Spritze mit Insulin an.

In Spielhof wird er von einem Mann erwartet, dem er den Rücken und die Füße wäscht. Alles andere kann der Senior noch alleine. „Das wird sich ändern“, sagt Jürgen Mang. „Es ist gut, wenn man sich dann schon kennt und ein Vertrauensverhältnis besteht. Dann ist es für beide Seiten einfacher.“

Kommt der Pfleger zum ersten Mal zu einem alten Menschen nach Hause, hört er oft Sätze wie „Ich brauche niemanden, ich kann alles alleine.“ So war das auch bei der krebskranken Patientin, der Mang das Pflaster wechselt. Die Bestrahlung hat eine Wunde hinterlassen, die regelmäßig versorgt werden muss. Inzwischen ist die Frau dankbar für die Unterstützung. Bald wird sie für einige Wochen in Kurzzeitpflege gehen. „Die Zeitung wird mir fehlen“, sagt sie. „Die können Sie sich nachsenden lassen.“ Jürgen Mang löst für seine Patienten auch vermeintlich kleine Probleme, hat für jeden ein offenes Ohr. „Es ist wichtig, auf die Menschen einzugehen, empathisch zu sein“, sagt er. Wichtig sei aber auch, wertneutral zu bleiben. „Ich tue nur das, was gewollt ist – selbst wenn meiner Meinung nach mehr zu tun wäre, etwa, was die Hygiene im Haushalt angeht“, betont der 53-Jährige. „Man muss sich abgrenzen – es ist nicht mein Haushalt. Ich habe eine andere Aufgabe, die ich so professionell wie möglich erbringe.“ Nur wenn er merkt, dass ein Patient in seinen eigenen vier Wänden gar nicht mehr zurecht kommt, informiert er die Angehörigen.

Nach einer Stunde der fünfte Patient
Um 7.10 Uhr erreicht er den fünften Patienten. „Das sind lauter freundliche Leut’, die da kommen“, sagt der alte Mann über den Pflegedienst. „Vor 70 Jahren habe ich im Lazarett Soldaten verbunden“, erzählt er, während Jürgen Mang routiniert die Kompressionsverbände anlegt.

„Auch wenn man jeden Tag dasselbe macht, ist es immer wieder anders“, sagt der Pfleger auf dem Weg zum Auto. Die Herausforderung bestehe darin, sich auf immer neue Situationen einzustellen. „Man muss das Beste daraus machen.“ Das ist nicht immer einfach. Mit manchen Patienten komme man gut zurecht, mit anderen weniger. „Das kommt auch auf die Tagesform an. Viele alte Leute sind niedergeschlagen, fast depressiv“, berichtet Mang.

Trotzdem: „Eigentlich ist es ein schöner Beruf. Wenn einige Dinge nicht wären.“ Etwa die mangelnde Planungssicherheit im Privatleben: Immer wieder muss Mang kurzfristig für Kollegen einspringen. „Wenn zwei im Urlaub sind und einer krank wird, wird es schon eng“, sagt der 53-Jährige. Auch finanziell sei der Beruf des Altenpflegers zu wenig wertgeschätzt. Immerhin kommt Wertschätzung von Seiten der Patienten und deren Angehörigen. Sie zeigt sich in kleinen Gesten – zum Beispiel dem Frühstück, das der Sohn einer 91-Jährigen für Jürgen Mang vorbereitet hat.

Nach der kurzen Frühstückspause fährt Jürgen Mang zur nächsten Patientin, ein paar Straßen weiter. Sie wird kommendes Jahr 95. „Das sehen wir dann, ob ich da noch lebe“, erwidert die zierliche Frau. „Die Gefahr ist groß, dass Sie da noch leben“, antwortet Mang, und beide lachen. „Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich“, meint sie nüchtern. So, wie bereits ihr Mann und ihr Sohn gestorben sind. „Da komm ich nicht drüber weg.“ Im vergangenen Sommer hat sie sich noch um ihren Garten gekümmert, nach einem Sturz verzichtet sie darauf. „Man muss aufhören, wenn es nicht mehr geht“, erklärt sie. Jürgen Mang richtet ihre Tabletten für die Woche, elf Stück pro Tag.

Nicht alle sind so selbstständig
Nicht alle sind so selbstständig wie die 94-Jährige. Bei seiner nächsten Patientin schmiert Mang Toastbrote und kocht Kaffee, hilft beim Anziehen. „Haben Sie gesehen, wie oft ich mich runterbücken muss? Das soll ich bis zur Rente schaffen?“, fragt er. Der 53-Jährige sorgt vor, macht Yoga- und Dehnübungen, um seine Gesundheit möglichst lange zu erhalten. Doch der Beruf des Altenpflegers ist auch eine körperliche Herausforderung. Manche Patienten werden daher zu zweit versorgt, so wie eine stark übergewichtige, bettlägerige Frau. Mang hat sich mit einer Kollegin verabredet, gemeinsam waschen sie die Patientin. Ansonsten genießt Mang es, auf den Touren sein eigener Chef zu sein.

Ein bisschen mehr Zeit für Persönliches
Pfleger wollte er immer schon werden, doch zunächst hat er KfZ-Schlosser gelernt. Den Zivildienst leistete er im Altenheim, danach entschied er sich, die Ausbildung zu machen. Bevor Mang zur Diakonie kam, arbeitete er in einem privaten Pflegeheim. „Da war der Kostendruck noch stärker spürbar. Wenn ich hier mal ein bisschen länger brauche, sagt niemand was“, sagt er auf dem Weg zum nächsten Einsatz. Wie in vielen Wohnungen, die Mang betritt, hängen auch dort zahlreiche Fotos von Familienmitgliedern an den Wänden. „Die Kinder haben wenig Zeit, es ist schön, wenn jemand kommt, der ein paar Worte für einen übrig hat“, sagt die Bewohnerin.

Für die Angehörigen ist die Unterstützung durch Pflegedienste eine große Entlastung. „Ich habe zuerst mit mir gekämpft, aber dann gemerkt, ich schaffe das alleine nicht. Ich kann meiner Familie nicht mehr gerecht werden“, sagt eine Frau, die ihre Mutter bei sich aufgenommen hat, als die nicht mehr allein wohnen konnte. „Es war eine Erlösung, dass die Diakonie kommt. Jemand von außen entspannt die Situation“, erzählt sie, während Jürgen Mang ihre Mutter wäscht.

Gegen Mittag zu Kundin Nummer 23
Um kurz nach 12 erreicht der Pfleger die 23. und letzte Patientin dieser Schicht. Klaglos unterbricht die Frau ihr Mittagessen für den Wechsel der Kompressionsverbände. „Die Leute müssen sich auch an unseren Zeitplan anpassen“, sagt Mang. „Morgens sind eben die dran, bei denen was Wichtigeres ist – etwa die Insulinspritze“, sagt die Seniorin. Geduldig wartet der Pfleger, bis sie die Verbände von ihren Beinen gelöst hat, dann legt er neue an. Als er das Auto schließlich vor der Diakoniestation in Murrhardt abstellt, zeigt der Tageskilometerzähler knapp 50 Kilometer an.

Hat der Pfleger selbst Angst vor dem Alter? „Man verdrängt das irgendwie. Ich hoffe, dass ich kein Pflegefall werde“, sagt Jürgen Mang. Er weiß, dass viele alte Menschen an ihren Einschränkungen leiden: „Ich kenne einige, die jeden Abend beten, dass Gott sie holt.“

InterviewSerie: Gut gepflegt im Rems-Murr-Kreis? Mit schwarzer Null zufrieden, Von Kathrin Zinser

Werden Pflegedienste von Wohlfahrtsverbänden getragen, ist ihr Kostendruck geringer, sagt Thomas Nehr, der Geschäftsführer der Diakonie ambulant.

Murrhardt - Es mangelt bundesweit an Pflegekräften. Der Geschäftsführer der Diakonie ambulant, Thomas Nehr, erklärt, warum er keine Personalsorgen hat.

Herr Nehr, haben Sie Probleme, Pflegepersonal zu finden?
Nein, wir haben drei bis vier Initiativbewerbungen im Monat. Damit sind wir relativ allein auf weiter Flur. Bundesweit dauert es in der Pflege im Schnitt 167 Tage, bis eine freie Stelle neu besetzt werden kann.

Was macht die Diakonie ambulant anders?
Es hat sich herumgesprochen, dass wir seit Jahren die Arbeitsbedingungen sukzessive verbessern und viel für die Gesundheit der Mitarbeiter tun. Sie können kostenlos in unserem Gerätestudio trainieren, unsere Autos verfügen über Sitzheizungen und Klimaanlagen. Wer kurzfristig einspringt, erhält einen Tankgutschein. Müttern bieten wir Touren von 8 bis 12 Uhr an, sodass sich Kinderbetreuung und Arbeitszeit leichter aufeinander abstimmen lassen. Zudem machen wir regelmäßig Mitarbeiterbefragungen. 2015 und 2017 sind wir mit dem Prädikat familienbewusstes Unternehmen ausgezeichnet worden. Im Moment haben wir jedoch einen vorübergehenden Personalengpass wegen einer Schwangerschaft, einer Kündigung und einer längeren Erkrankung. Generell ist die Fluktuation aber gering.

Haben Ihre Mitarbeiter genug Zeit für die Patienten?
Manchmal wäre es nötig, eine Minute mehr zu haben, um eine Hand zu halten oder ein Gespräch zu führen – für ein Mehr an Lebensqualität der Patienten. Zeitdruck entsteht auch durch Bürokratie, daher haben wir einen Prozess der Entbürokratisierung gestartet. Es gibt weniger Formulare, stattdessen eine mobile Datenerfassung per Smartphone. Das entlastet die Kollegen.

Was ist mit ökonomischen Zwängen?
Da die Diakonie ambulant nicht gewinnorientiert arbeitet, ist der Kostendruck bei uns geringer als bei privaten Anbietern, die zehn bis 20 Prozent Gewinn erwirtschaften möchten. Aber natürlich müssen wir auch nach den Zahlen schauen. Doch mit einer schwarzen Null sind wir zufrieden.

70 Mitarbeiter hat die Diakonie ambulant - Gesundheitsdienste Oberes Murrtal e.V., die eine gemeinsame Einrichtung von Krankenpflegevereinen, Kirchen, Stadt und Gemeinden mit Sitz in Murrhardt ist. Sie versorgt rund 1000 Patienten. Um das rund 170 Quadratkilometer große Gebiet abzudecken, fahren die Mitarbeiter etwa 350 000 Kilometer im Jahr.

Neben Pflege bietet die Diakonie ambulant Logopädie sowie Ergo- und Physiotherapie an. Die Einrichtung bildet selbst aus.

 

Verfasser: Kathrin Zinser - Stuttgarter Zeitung

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