Diakonie ambulant: Diakonie Ambulant

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„Viele steigen aus dem Beruf aus“

Autor: Hirsch & Wölfl GmbH
Artikel vom 09.03.2023

Interview Thomas Nehr, geschäftsführender Vorstand von Diakonie ambulant, sieht die Pflege in vielen Bereichen vor dem Kollaps; in der Breite ist ein verantwortliches Arbeiten oft nicht mehr möglich. Ein Zukunftskonzept tut not, das für ihn viel mit der Wertschätzung der Mitarbeiter zu tun hat.

Sie haben sich vor einiger Zeit mit Fachleuten aus dem Gesundheitsbereich zur schwierigen Lage in der Pflege ausgetauscht. Würden Sie sagen, sie steht vor dem Kollaps?

In vielen Bereichen: Ja. Anteil hatten auch die schwierigen Bedingungen während Corona. Sie haben dazu geführt, dass Mitarbeiter insbesondere aus dem stationären Bereich durch zusätzliche Auseinandersetzungen mit Bewohnern und Angehörigen aus dem Beruf ausgestiegen sind. Der Paragraf 20a hat eine maßgebliche Rolle gespielt, also der Nachweis des Impfstatus, den man umgangssprachlich als Impfpflicht in der Pflege bezeichnet hat. Wir nennen das im Haus nicht so, weil es wirklich um den Status geht. Nicht jeder kann geimpft werden.

Das heißt, eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben gekündigt.

Oder wurden gekündigt. Also ich habe jetzt die Bewerbung einer Fachkraft auf dem Tisch, über die ich mich sehr freue. Sie ist entweder gekündigt worden oder ist gegangen. Zunächst hat sie eine andere Arbeit gefunden, möchte aber nun nach einem Jahr zurück in ihren therapeutischen Beruf. Die Folgen nach drei Jahren Corona sieht man jetzt erst allmählich. Die Pflege hat einiges ausgehalten, aber man sieht auch, dass die Fehlzeiten wegen Krankheit der Mitarbeiter teilweise um das Doppelte angestiegen sind. Waren es früher im Bundesdurchschnitt acht Prozent, liegen sie mittlerweile zwischen zwölf und 15 Prozent.

Was heißt das für den Alltag bei Diakonie ambulant?

Die Diakonie ambulant hat ihre gute Gesundheitsquote gehalten. Davon unabhängig ist aber klar, dass der Bedarf an Pflege massiv ansteigen wird. Wir haben jetzt schon rund fünf Millionen Pflegebedürftige und wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen, die jetzt noch in der Pflege arbeiten, wird sich das massiv bemerkbar machen. Also ich habe Kollegen im Rems-Murr-Kreis, die verlieren in fünf Jahren die Hälfte ihrer Mannschaft.

Das sind Zahlen, die schon feststehen.

Das kann man ausrechnen, und das weiß man schon sehr lange. In politischen Sonntagsreden heißt es, wir müssen entbürokratisieren. Das hört sich gut an, aber die Bürokratie hat nicht abgenommen.

Sie haben auch angedeutet, dass es bei Diakonie ambulant personell noch ganz gut aussieht. Warum ist das so?

Gut, da erzähle ich Ihnen, glaube ich, nichts Neues. Wir sind jetzt seit zwölf Jahren mit dem BELEV-Konzept unterwegs. Im Zentrum steht die Frage, wie gesundes Arbeiten aussehen kann. Teil des Konzepts sind Befragungen der Mitarbeiter, die letzte war vor anderthalb Jahren mit 83-prozentiger Beteiligung. Das ist ein sehr hoher Wert und heißt nichts anderes, als dass die Mitarbeiter beteiligt werden möchten.

Trotzdem waren die Bedingungen schwieriger aus besagten Gründen. Hat das nicht dazu geführt, dass die Belastungen auch im Alltag von Diakonie ambulant größer geworden sind?

Bei uns nicht. Wir konnten im letzten Jahr fünf neue Mitarbeiter gewinnen, sodass wir die Aufgaben sehr gut bewältigt haben. Wir haben diese Haltung und das auch von Anfang an gesagt: Wir wollen keinen dieser Menschen verlieren, die bei uns sind. Dieses Jahr hat eine Ergotherapeutin neu angefangen, außerdem eine Logopädin, die ein schönes Beispiel ist. Was glauben Sie, wie alt sie ist?

Meine Hoffnung ist ja, dass die Arbeitgeber auch auf ältere Mitarbeiter setzen. Natürlich habe ich keine Ahnung, vielleicht ist sie 40 Jahre?

Sie ist 66 Jahre und wer sie erlebt, sieht, da ist jemand, der hat Freude an seiner Arbeit, die hat sie nicht verloren. Zuvor war sie über zehn Jahre lang selbstständig.

Aber Sie müssen damit rechnen, dass sie irgendwann in den Ruhestand geht.

Sie möchte noch drei Jahre arbeiten. Für unsere Patienten ist das natürlich ein Glücksfall. Wenn es jetzt noch mit einer weiteren Bewerberin klappt, wäre das richtig gut und wir könnten den Bedarf tatsächlich decken. Jemand, der aus der Selbstständigkeit kommt, hat neben der Arbeit mit Patienten noch viele andere Herausforderungen wie beispielsweise Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse oder anderen verwaltungs- oder abrechnungstechnischen Fragen. Das haben wir bei Diakonie ambulant gelernt, dass die Größe da auch ein Vorteil ist und wir diesen Part für die Mitarbeiter so klein wie möglich halten.

Damit die sich auf die Patienten konzentrieren können.

Es geht sozusagen um jeden einzelnen Patienten. In der Logopädie hatten wir ein Jahr Wartezeit. Ein Jahr! Wenn aber ein Kind mit einem Sprachfehler vor der Einschulung steht oder bei einem älteren Menschen nach einem Schlaganfall das Sprachzentrum betroffen ist, brauchen sie sofort Unterstützung, müssen regelmäßig üben und angeleitet werden. Insofern bin ich froh, dass wir diesen Bedarf wieder decken können. Zudem haben sich die Bedingungen in Bezug auf Corona und die Schutzmaßnahmen wieder normalisiert.

Gleichzeitig sind die Herausforderungen noch da. Wie lässt sich besagter Kollaps angesichts der wegbrechenden Mitarbeiterzahlen verhindern?

Mit Mitarbeiterbindungsmaßnahmen und eigener Ausbildung. Da ist beispielsweise die Anzahl der Auszubildenden. Aber auch beim Niveau bestehen Unterschiede zu den eigentlichen Ansprüchen. Also wenn ich in die Schulen schaue, dann haben wir in einer Klasse teilweise zwei Drittel Schüler mit Migrationshintergrund. Diese Azubis kommen aus der ganzen Welt und kämpfen mit verschiedenen Sprachbarrieren und das ist gar kein Vorwurf, sondern es ist einfach so. Auf der anderen Seite wollen wir mit Expertenstandards die Qualität hochhalten und möglichst immer noch einen weiteren draufsetzen. Standards, die Mitarbeiter in der Pflege umsetzen müssen und die der Medizinische Dienst der Krankenversicherung überprüft. Das ständige Mehr an Expertenstandards behindert die Pflege mittlerweile. Der Dokumentationsaufwand ist hoch. Bei einem Notendurchschnitt auf Bundesebene von 1,2 stellt sich die Frage, wo der Mehrwert für den Patienten ist. Dadurch wird kein Patient mehr gepflegt!

Das ist der Durchschnittswert für die gesamte Pflege?

Genau, für die über 30000 stationären und ambulanten Einrichtungen, da sind die Werte im Schnitt sehr gut. Es gibt auch ein paar schwarze Schafe, das betrifft ein bis zwei Prozent.

Sie sagen, diese Art von Kontrolle braucht es nicht?

Sie hat vielleicht mal ihren Wert gehabt, aber mit Blick auf die Zukunft hat sie ein Maß erreicht, das so nicht mehr sinnig ist. Im Kern wird kein Patient besser versorgt, indem wir noch mehr von diesen Auflagen bekommen. Das Ziel muss die bestmögliche Versorgung der Patienten und nicht die gegenseitige Kontrolle sein. Viel Kontrolle bedeutet wenig Vertrauen, aber ohne Vertrauen funktioniert überhaupt nichts. Ein Qualitätsmanagement ist gut, aber die Verhältnismäßigkeit darf nicht aus dem Blick geraten. Wenn wir da mit allen Beteiligten keine mutigen Entscheidungen treffen, verlieren die Mitarbeiter vollends die Freude am Beruf.

Der auch ein anstrengender ist.

Er ist durch eine ganz hohe Sinnhaftigkeit gekennzeichnet. Für eine ausgebildete Fachkraft ist auch die Verstehbarkeit beziehungsweise das Wissen kein Thema. Fort- und Weiterbildungen, die nötig sind, bekommen die Mitarbeiter von uns. Aber wenn ich im stationären Bereich als Pflegefachkraft allein für 50 bis 60 Menschen zuständig bin, dann kann ich diese Arbeit nicht schaffen. Das ist vielmehr eine Notversorgung und mündet für die Mitarbeiter in das, was ein Kollege als Personalabnutzungskrieg bezeichnet hat. So gehen die wichtigen Mitarbeiter aus dem Pflegesektor und als Erstes gehen die „guten“ Mitarbeiter.

Die Arbeitsbedingungen sind einfach zu schwierig.

Wir haben jetzt einen Punkt erreicht, wo in der Breite ein gutes, verantwortliches Arbeiten nicht mehr möglich ist und viele aus dem Beruf rausgehen. Auch manche ambulanten Dienste im Kreis haben Aufnahmestopp. Aber Einrichtungen, die früh angefangen haben, etwas für ihre Mitarbeiter zu tun, stehen besser da. Es gibt da auch einige, die in der Hinsicht vorangehen. Aber aufgrund der Tatsache, dass die Einrichtungen in ein marktwirtschaftliches System eingebunden sind und nach dieser Logik mehr oder weniger als Wirtschaftsfaktor gesehen werden und Profit machen sollen, kann es dazu kommen, dass am Ende Personal eingespart wird, damit die Investoren zufrieden sind. Dieser Weg muss dringend verlassen werden.

Was sind die zentralen Punkte, die bei den Arbeitsbedingungen stimmen müssen?

Ein wichtiger Punkt ist, dass ich meine Arbeitsbedingungen mitgestalten darf. Dann bringe ich mich auch anders ein. Dann ist die Frage, sieht mich mein Chef auf Augenhöhe und nicht von oben herab. Ein klassisches hierarchisches Führungsverständnis ist in der Hinsicht Schnee von gestern. Es geht um Partizipation, Respekt und Wertschätzung und zwar für beide Seiten.

Das bedeutet aber für den Einzelnen durchaus mehr Verantwortung.

Ich finde es die gesündere Variante. Jetzt schlage ich den Bogen zum Zukunftstag, der sich mit diesen Fragen befassen wird. Diese Tagung wird im April von pulnetz.de angeboten, einem offenen Netzwerk der Diakonie, das sich als Austauschplattform für gesundes Arbeiten in der Sozialwirtschaft versteht und in dessen Beirat ich seit sechs Jahren engagiert bin. Man kann die Arbeitsbedingungen verbessern, aber die Reglementierung, Kontrolle und die Überprüfungen lähmen auch und engen den Handlungsspielraum in den Einrichtungen mittlerweile so ein, dass Mitarbeiter nur noch funktionieren können. Deshalb ist es schwer, einen Schritt zurückzutreten, um die Situation zu betrachten und nach neuen Konzepten und Lösungen zu suchen. Aber genau darum geht es. Die Pflegekräfte müssen ihre Arbeit wieder in Würde erbringen. Dazu braucht es zum Beispiel Zeit für den Patienten und keine Fließbandtaktung.

Das Gespräch führte Christine Schick.